28/10/2024
MARCEL PROUST (1871-1922) Rückbesinnung
"Als ich endlich ohne Ku**er an jenen Tag zurückdenken konnte, an dem Albertine mit Francoise Einkäufe gemacht hatte, anstatt im Trocadero zu belieben, erinnerte ich mich mit Vergnügen an ihn als an einen Tag, der einer Seelenjahreszeit angehörte, die mir vordem noch nicht bekannt gewesen war; endlich rief ich ihn mir genau in die Erinnerung zurück, jedoch ohne ihn mit Leiden zu versetzen, vielmehr im Gegenteil: ebenso wie man sich gewisser Sommertage erinnert, die man zu heiß gefunden hat, als man sie erlebte, und aus denen man erst nachträglich die unvermischte Essenz aus echtem Gold und unvergänglichem Azur zieht.
Auf diese Weise färbten diese wenigen Jahre nicht nur die Erinnerung an Albertine, die sie so schmerzlich machte, mit den wechselnden Tönungen der verschiedenen Begleitumstände, der Asche ihrer Jahreszeiten oder Stunden, der Spätnachmittage im Juni oder der Winterabende, des Vollmondscheins auf dem Meer im Morgengrauen bei der Heimkehr, des Schnees von Paris mit den abgestorbenen Blättern von Saint-Cloud, sondern auch noch die besondere Vorstellung, die ich mir nacheinander von Albertine machte, von dem physischen Aspekt, unter dem sie mir in jedem dieser Augenblicke erschien, von der mehr oder weniger großen Häufigkeit, mit der ich sie in jener Jahreszeit sah (die daraufhin aufgelockerter oder dichter erschien), den Ängsten, in die sie mich durch das Warten auf sie versetzt hatte, dem Zauber, den ich selbst in irgendeinem Augenblick für sie besaß, den Hoffnungen, die ich hegte und dann wieder aufgegeben hatte; alles das verwandelte rückblickend den Charakter meiner Trauer ganz ebensosehr wie die Eindrücke von Licht oder Duft, die damit verbunden waren, und vervollständigte jedes einzelne der Sonnenjahre, die ich durchlebt hatte und die allein mit ihrem Frühling, ihrem Herbst, ihrem Winter wegen der von ihr unlösbaren Erinnerung so traurig waren, und unterlegte sie mit einer Art von Seelenjahr, in dem die Stunden nicht durch die Stellung der Sonne bedingt wurden, sondern durch die Erwartung einer Begegnung mit ihr, in dem die Länge der Tage oder die Fortschritte der Temperatur gemessen wurden einzig an der Beschwingtheit meiner Hoffnungen, dem Fortschreiten unserer Freundschaft, der zunehmenden Verwandlung ihres Gesichts, den Reisen, die sie gemacht hatte, der Häufigkeit und dem Stil der Briefe, die sie mir geschickt, wenn sie fern von mir war, ihrem mehr oder weniger großen Eifer, mich bei der Rückkehr wiederzusehen, und wenn schließlich dieser Wandel der Zeit, der verschiedenen Tage mir jeweils eine andere Albertine schenkte, so geschah das nicht nur in Folge der unwillkürlichen Rückerinnerung durch gleiche Augenblicke."
Textquelle: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Die Entflohene, Marcel Proust (1871-1922), Suhrkamp Verlag, S.101, (deutsch: Eva Rechel-Mertens)
Foto: Kultur Jack