12/02/2024
|Die Auseinandersetzung um Willensfreiheit und rechtliche Schuld erschüttert juristische Gewissheiten. Erkenntnisse zur Unfreiheit des menschlichen Willens könnten zu einem innovativen Wandel im Rechtssystem führen: Prävention und Rehabilitation statt Strafe und Schuld.|
Die Kontroverse um Willensfreiheit und rechtliche Schuld wirft tiefgreifende Fragen auf, die das Fundament unseres juristischen Gefüges auf eine harte Probe stellen. In einer Welt, in der der freie Wille als Chimäre gilt, sehen wir uns mit der heiklen Angelegenheit konfrontiert, die Schuldfrage neu zu stellen. Denn „keiner kann anders als er ist”, sagt Wolf Singer.
Die traditionelle Vorstellung von individueller Verantwortlichkeit gerät ins Wanken, wenn wir die Annahme eines selbstbestimmten Willens in Zweifel ziehen. Die Grundannahme, dass Menschen bewusste Entscheidungen treffen und für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden können, wird in Anbetracht einer determinierten Welt höchst fragwürdig, atavistisch gar: Ist es nicht zutiefst diskriminierend, Individuen nach einem Konzept zu beurteilen, das möglicherweise die bloße Manifestation einer allzumenschlichen Selbsttäuschung ist? Für Singer könnte die Einsicht in die Unfreiheit des Willens zu einer verständnisvollen Beurteilung von Menschen führen, „die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepaßtes Verhalten erlaubt”.
Unser Rechtssystem basiert auf der Prämisse, dass Akteure die Fähigkeit besitzen, bewusste Entscheidungen zu treffen und für ihre Taten moralisch und rechtlich rechenschaftspflichtig sind. Doch wie positionieren wir uns, wenn diese Prämisse hinfällig wird? Wie soll das Rechtssystem operieren, wenn der freie Wille nur eine Idee ohne Realitätsbezug ist? Ist die zwangsläufige Konsequenz daraus nicht die permanente und prinzipielle Schuldunfähigkeit?
Nicht nur unser Rechtssystem muss sich dann konsequenterweise von Großbegriffen wie Schuld und Sühne, Vergeltung und Strafe verabschieden. Auch unsere Alltagsmoral wird tangiert, unsere Idee von Erziehung, von richtigem und falschem Verhalten. Doch das Rechtssystem ist in erster Linie und vor allem betroffen: Ohne die prinzipielle Möglichkeit des Menschen, Entscheidungen frei, eigenverantwortlich und ohne innere Zwänge zu treffen, verliert unser Rechtssystem den Maßstab, die individuelle Verantwortung und Schuld zu bemessen. Das führt zu einer grundlegenden Infragestellung der Fähigkeit unseres Rechtssystems, gerechte Urteile zu fällen und effektive Maßnahmen zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit und sozialer Ordnung zu ergreifen.
In Reaktion auf diese intellektuellen und ethischen Herausforderungen könnten, ja müssten innovative rechtliche Modelle entstehen, die grundsätzlich auf präventive Maßnahmen und Rehabilitation setzen. Die Einsicht in die Unfreiheit des Menschen könnte die Grundlage für ein zeitgemäßes, flexibles, der humanen Natur angemessenes Rechtssystem schaffen. Es klingt wie ein dringlicher Aufruf zu mehr Menschlichkeit, wenn der Neurobiologe Robert Sapolsky der ZEIT sagt: „Wir müssen dafür sorgen, dass ein Mörder niemandem mehr schaden kann. Aber wir sollten ihm keinen Millimeter mehr Zwang antun als absolut nötig – das hat er nicht verdient, schließlich geht es nicht um Bestrafung. Und ganz sicher sollten wir ihm nicht vorhalten, wie kaputt seine Seele ist.”
Eine Schattenseite wird in diesem Zusammenhang indessen eher selten beleuchtet: Wenn das Gehirn mancher Menschen eine unveränderliche „dysfunktionale Architektur” (Singer) aufweist, ist es dann nicht nur ein kurzer Weg dahin, dass Menschen mit einer solchen angeborenen Dysfunktionalität präventiv und dauerhaft vom gesellschaftliche Leben isoliert werden? Fast will man zynisch fragen: Werden die Gehirne in der Pubertät oder mit Erreichen der Volljährigkeit untersucht? Müssen verurteilte Täter aufgrund ihrer hirnphysiologischen Beschaffenheit ohne eine zweite Chance lebenslang sicherheitsverwahrt werden? Wie man merkt, der Grad zwischen Utopie und Dystopie ist ein schmaler. (mpk)
Quellen:
- Wolf Singer, Verschaltungen legen uns fest, in Christian Geyer (ed.), Hirnforschung Und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, pp 30-65.
- https://www.zeit.de/wissen/2024-02/freier-wille-neurobiologie-schuld-moral-verantwortung/komplettansicht (abgerufen am 12.02.24)