03/10/2024
Fortsetzung
In Erinnerung an T.O. Immisch (1953-2024)
Messer der Sehnsucht
Veröffentlicht in:
Rundbrief Fotografie N.F. 15 (1997), S. 3 (Vol. 4, No. 3).
Teil dieses sozialen und mentalen Wandels war eine andere Praxis in den Künsten. Eine wachsende Zahl von Künstlern ignorierte die vorgeschriebenen Regeln, sie setzten dagegen schlicht ihr Eigenes. Und eine wachsende Anzahl von Kunstvermittlern reagierte darauf und half ihnen, ihre Werke ans Publikum zu bringen. Zu diesen unabhängigen und wirkungsvollen Künstlern gehörte auch Matthias Leupold. Ohne künstlerische Ausbildung, kein Mitglied des offiziellen Künstlerverbandes, arbeitete er mit zwei Freunden zusammen, voller Energie und Phantasie. Ihr Werk war Teil der neu aufkommenden inszenierenden Fotografie. Für Leupold war das Inszenieren eine Art Antwort auf die damals dominierende Tendenz sozialdokumentarischer Fotografie, die auf den weit verbreiteten Glauben an die Wahrheit und Authentizität des fotografischen Bildes baute. Gegen diesen Glauben spielte Leupolds Gruppe an mit Inszenierungen von Fragmenten der offiziellen Bild-Welt, als Repräsentationen ihrer persönlichen Phantasien, Sehnsüchte und Ängste. Sie taten das mit einem besonderen Sinn für Humor und mit einer Vorliebe für rätselhafte und/oder mehrdeutige Bilder. Und ihnen war bewußt, daß das Spiel Ernst war.
Eine Stimmung der Bedrohung liegt über Leupolds Bild der Frau mit dem Messer. In ihm sind Extreme nahezu ins Gleichgewicht gebracht: dunkler Schatten oben, helles Licht unten, Nähe links, Distanz rechts. Durch die vertikalen Linien des Ladens und die stehende Figur ist Ruhe ausgedrückt, sachte dynamisiert durch die perspektivischen Linien der Fassade und des Fußwegs. Das Zentrum des Bildes ist akzentuiert durch die vertikale Linie und das Hell-Dunkel der Oberfläche hinter der Frau. Sie selbst steht außerhalb der Mitte, links und unterhalb davon. Und sie ist die Mitte dessen, was (noch nicht) geschieht. In ihr ist die Mehrdeutigkeit des Bildes konzentriert. Ihre Körpersprache fragt die Fragen. Öffnet ihre Hand die Jalousie, oder schließt sie sie? Was oder wen sieht sie? Man betrachte, wie sie das Messer hält - was hat sie damit vor? Und ihre Beine in den zu kurzen Hosen: kindlich und der Kindheit entwachsen zur gleichen Zeit.