29/09/2023
Freiheit oder Sicherheit?
Als ich meinen ersten Camino ging, bin ich morgens früh losgelaufen und habe im ersten Café eine kurze Pause gemacht, um im Reiseführer nachzulesen, was mich heute wohl auf der Strecke erwarten würde.
Ein paar Stunden später, beim kleinen Mittagessen in einem anderen Café, begann ich dann erstmals darüber nachzudenken, wie weit ich an diesem Tag eigentlich gehen würde, und wo ich abends wohl schlafen würde. Und dann habe ich einfach darauf vertraut, dass ich dort schon irgendwie und irgendwo ein Bett bekommen würde. Unterwegs habe ich meine Nase in den Wind gehalten und sehr spontan entschieden, mit wem ich eine Pause verbringe, oder auch mit wem ich mehrere Stunden lang im Café sitzen bleibe, weil das Gespräch gerade so schön ist.
Oftmals habe ich dann ganz woanders geschlafen als ein paar Stunden vorher noch gedacht.
Und ich habe viel erlebt.
Bei meinem letzten Camino war das anders. Ich habe an vielen Tagen abends in der Camino Ninja App nachgeschaut, wie weit ich am folgenden Tag wohl gehen würde, um mir schon jetzt dort ein Bett (oder auch ein Zimmer) zu reservieren. Und dann bin ich am nächsten Tag auch konsequent genau so weit gegangen - denn das Bett war ja gebucht.
Ich habe also ein Stück Freiheit aufgegeben und ein Stück Sicherheit bekommen.
Und das ist nicht nur bei mir so.
Die Zahlen auf den Caminos sprechen dieselbe Sprache wie die Erfahrungen aller Pilger und aller Gastgeber: es wird immer mehr vorausgeplant und immer mehr vorab gebucht.
Wir tauschen also unsere Freiheit gegen Sicherheit.
Einerseits wissen wir dann sicher, wo wir schlafen werden.
Andererseits haben wir dann auch einen Plan, dem wir gehorchen müssen. Spontane Begegnungen werden immer seltener, wenn sie nicht mehr in den Plan passen.
Und dann gibt es auch Pilger, die sich nur auf den Camino trauen, wenn sie von der ersten bis zur letzten Nacht auf ihrem Weg alles vorab geplant haben. Und diese Tabelle halten sie dann penibel ein. Das Korsett wird dann noch viel enger, und die Bewegungsfreiheit noch geringer.
Doch sind das oft Pilger, die sich anders gar nicht auf den Weg machen würden. Also lieber so als gar nicht.
So erlebt also jeder von uns seinen eigenen Camino. Die einen suchen Sicherheit, und die anderen suchen Freiheit.
Und am Ende finde ich zwei Aspekte daran wichtig:
Erstens:
Ich respektiere jeden in seiner eigenen Art. Es gibt kein richtig oder falsch. Jeder trägt einen anderen Rucksack durchs Leben, und jeder geht seinen eigenen Camino.
Man sollte also niemanden verurteilen. Auch nicht leise im Kopf.
Zweitens:
Der Camino lädt uns ein, auch mal etwas anders zu machen als sonst.
Schon das viele Gehen, das frühe Aufstehen, das sind ja alles Unterbrechungen unseres gewohnten Alltags. Es ist ein neuer Rhythmus, dem wir uns für eine Weile aussetzen, und es ist ein neuer Tanz im Leben, den wir ausprobieren.
Und dieser neue Rhythmus könnte auch dazu führen, dass du einmal ausprobieren möchtest, dich etwas weniger sicher und dabei etwas mehr frei zu fühlen.
Dich dem Camino hinzugeben.
Zu vertrauen, dass am Ende alles Gut wird.
Die Tür etwas weiter zu öffnen, damit ein guter Zufall eintreten kann.
Bei mir war es noch jedes Mal so, dass eine wunderbare Begegnung stattfinden konnte, wenn ich mich auf dem Camino ganz auf das Hier und Jetzt konzentrierte und meinen Plan vergessen konnte.
Kennst du das?
Hast du deine Position zwischen Sicherheit und Freiheit auf dem Camino schon einmal bewusst verändert?
Hat sich der Camino verändert?
Hat dich der Camino verändert?