11/06/2023
Süddeutsche Zeitung
7. Juni 2023
LORRAINE HAIST
Venedigs grüne Seite
Es ist nicht leicht, in der Stadt nachhaltig zu essen. Doch das Umdenken in der Lagune hat begonnen. Wie eine Generation junger Köchinnen und Köche die Regionalküche neu definiert
VON LORRAINE HAIST
Auf Fotos sieht man Chiara Pavan und Francesco Brutto meist in gebückter Haltung, die Hände im Grünen. Genau wie heute, an einem sonnigen Frühlingstag im Garten ihres Restaurants „Venissa“ auf der kleinen Insel Mazzorbo bei Venedig. Zwischen blühenden Rosen und Weinreben, Tomaten- und Zucchinipflanzen pflücken die beiden Küchenchefs das Gewürz für den Mittagsservice: Halophyten, Salzpflanzen, von denen hier verschiedene Arten wachsen, Queller, Portulak, Salzkraut, Strandsode. Sie wuchern entlang der mittelalterlichen Mauern, die den Garten vom salzigen Wasser der Lagune trennen. Längst aber auch an anderen Stellen, und es werden immer mehr, weil es immer weniger regnet und dadurch der Salzgehalt im Boden steigt. Einerseits kann sich die Küche im Restaurant und der angeschlossenen Osteria dadurch das Salz sparen. Die Kehrseite ist weniger schön: Sie zeigt, wie ein einzigartiges Naturparadies im Schnelldurchlauf verschwindet.
Dass man die Naturzerstörung in Venedig wie unterm Brennglas beobachten kann, liegt am geschlossenen Ökosystem der Lagune. Klimawandel und Übertourismus, steigende Meerespegel, Gewässerverschmutzung durch Motoröl und schwefelhaltigen Dünger der Landwirtschaft sowie invasive Arten, die andere verdrängen. „Hier verschwinden Tierarten innerhalb eines Jahres“, sagt Francesco Brutto, der von einer geplanten Turbotrasse für den Bootsverkehr durch die Barene erzählt, die umliegenden Salzmarschen, um die Touristen noch schneller vom Flughafen in die Stadt zu transportieren. Und von einem neuen Fußballstadion, für dessen Finanzierung die Stadtverwaltung ein Porträt von Gustav Klimt verscherbeln will. „So denkt man hier“, sagt er.
Aber es gibt auch viele, die sich gegen die Rückwärtsgewandtheit der Politik stellen. Die überzeugt sind, dass Achtsamkeit der einzige Weg ist, dieser moribunden Stadt, die einmal die kosmopolitischste der Welt war, noch zu begegnen, wenn man sie erhalten will. Eine wachsende Sensibilität findet man in der venezianischen Küche, wo eine junge Generation von Köchen, Köchinnen und Gastronomen versucht, mit ihren Mitteln nachhaltigere Impulse zu setzen. Venedig hat oft versprochen, sich kulinarisch neu zu erfinden. Aber diesmal geht es nicht um die letzten Geheimtipps in einer übererschlossenen Stadt. Sondern darum, Gäste zum Umdenken zu verführen. Über die Arbeit mit lokalen Lebensmitteln und Traditionsrezepten gezielt zum Verständnis für den Zustand der Stadt beizutragen, von ihrer reichen Geschichte und Kultur zu erzählen, jenseits aller Gondelklischees. Das Ziel ist ein sanfterer Tourismus, der versteht, was den Zauber Venedigs ausmacht. Man hofft auf eine Rekultivierung, die durch den Magen geht.
Dabei ist die ruhige nördliche Lagune von Venedig – der Archipel von Mazzorbo, das benachbarte Burano mit seinen bunten Häusern und Torcello – noch vergleichsweise gut dran. Denn die Inseln sind eine 40-minütige Bootsfahrt entfernt. Anders als der südliche Teil rund um den Canal Grande, der mit dem Dauerbootsverkehr wie eine maritime Autobahn wirkt. Francesco Brutto, der ein AC/DC-T-Shirt zu platinblondierten Locken trägt, zeigt auf ein Motorboot, das auf dem Kanal jenseits der Gartenmauer vorbeibraust. Der Wellengang der Schiffe nagt nicht nur an Venedigs Palästen, er zerstört auch die Ränder der Barene, wo man Ibisse, Seidenreiher und Zwergseeschwalben beobachten kann, ein fragiler Lebensraum für seltene Tiere und Pflanzen. Brutto kam vor fünf Jahren aus dem nahen Treviso hierher, „damals sah die Natur noch ganz anders aus“, erzählt er. „Es gab viele heimische Fischarten, Doraden, Jakobsmuscheln, Tintenfische und Moeche, die jungen, weichschaligen Krabben, die man hier im Frühling und im Herbst fängt. Heute gibt es nichts mehr.“
Doch der Lagune beim Untergang zuzusehen, kam für den jungen Koch nicht infrage. Ebenso wenig wie für seine Partnerin Chiara Pavan, die aus Verona stammt und Philosophie, Soziologie und Wissenschaftsgeschichte studiert hat. „Cucina Ambientale“ nennt das Paar seine Küche im Michelin-besternten Venissa und der lässigeren Osteria. Eine hyperlokale Philosophie an einem geschichtsträchtigen Ort: Dort, wo im sechsten Jahrhundert das antike Venedig entstand, entdeckte der Prosecco-Winzer Gianluca Bisol 2002 zufällig die autochthone Rebsorte Dorona, deren Wein schon die Dogen tranken.
Er machte daraus das Weingut Venissa mit 4000 Rebstöcken, zwei Restaurants und Gästezimmern. Im Mittelpunkt des kulinarischen Umweltschutzprojekts stehen die unmittelbare Umgebung, Abfallreduzierung, Eigenproduktion, Saisonalität und Zusammenarbeit. Teile des Gartens bewirtschaften pensionierte Fischer von der Nachbarinsel Burano. Im Restaurant gibt es kein Fleisch, stattdessen Gemüse, Obst und Kräuter aus dem eigenen Garten, Fische und Meeresfrüchte aus der Lagune vor der Haustür. Aber nicht die bedrohten einheimischen Arten, sondern ihre Gegenspieler, die am Rumpf oder im Ballastwasser von Fracht- und Kreuzfahrtschiffen eingeschleppt wurden und sich dank steigender Wassertemperaturen ausbreiten. „Wenn wir tierisches Eiweiß verwenden, dann nur noch von invasiven Arten“, sagt Brutto. „Wir wollen andere inspirieren, es uns gleichzutun.“
Pavan und Brutto haben aus der Not eine Tugend gemacht. Ihr hochkreatives Menü lebt von der ständigen Anpassung an die lokalen Gegebenheiten. Es gibt ein mit Thymian- und Wisteria-Blüten dekoriertes Chawanmushi – japanischer Eierstich –, zubereitet mit einer Brühe aus Blaukrabben-Abschnitten. Das kräftige Tier mit blauem Panzer stammt aus dem Westatlantik, frisst die Eier der kleinen Moeche und hat die venezianische Spezialität fast ausgerottet. Die Anadara-Muschel, die aus dem Pazifik und eingeschleppt wurde und die Larven der einheimischen Tellmuschel vertilgt, kommt mit fermentierter Rübe und den ersten Blättern vom Großen Wiesenknopf, die ein zartes Wassermelonen-Aroma verströmen. Von der kleinen, lilafarbenen Castraure, der ersten Knospe der Artischocke und einer venezianischen Delikatesse, hat Francesco Brutto vor dem Mittagsservice noch einige geerntet.
Chiara Pavan serviert sie mit Honig-Essig und jungen Salbeiblättern.„Unser Garten bedeutet Einfachheit für mich“, sagt sie. „Wir können hier das ernten, was wir kochen wollen. Der mineralische Boden verleiht Gemüse und Kräutern einen ganz speziellen, intensiven Geschmack.“ Ihre 2000 Artischockenpflanzen seien mehr als genug, sagt Francesco Brutto. „Wenn uns eine Zutat ausgeht, dann pflücken wir Wildkräuter, wilde Karotten oder Radicchio. Wir ändern das Menü ständig und haben immer einen Plan B.“ Dazu gehört auch das Fermentationslabor, wo sie pflanzliche Proteine wie Tempeh und Seitan herstellen, Fischreste zu Garums verarbeiten und trockenes Brot zu Sojasauce.
Ähnlich arbeitet Riccardo Canella, fünfzehn Wassertaxi-Minuten weiter südlich auf der Insel Giudecca. Auch hier ist es idyllisch, dennoch betritt man eine andere Welt. Das 1957 eröffnete Hotel Cipriani ist eine lebende Hotel-Legende mit üppigen Gärten, dem größten Außenpool Venedigs und einer Fassade in „Bellini Pink“, benannt nach dem Cocktail-Klassiker mit Pfirsichmark, den Hotelgründer Giuseppe Cipriani erfand. An der Pool-Bar hält ein Falkner mit seinem Vogel die Tauben von den Cocktailnüsschen fern. Wer im Restaurant „Oro“ (ein Michelin-Stern) aber Foie Gras und Hummer erwartet, wird enttäuscht: Riccardo Canella, neuer Küchendirektor des Hotels, ist nach sieben Jahren als Souschef im Kopenhagener „Noma“ in seine Heimat zurückgekehrt. Er soll dabei helfen, den Luxus, den ein Ort wie das Cipriani mit seinen vielen Celebrity-Gästen verkörpert, mit Bedeutung aufzuladen und ihm dadurch in schwierigen Zeiten neue Berechtigung zu verleihen. Auch deshalb gibt es im Oro jetzt Sauerteigbrot und eine Speisekarte, die ein venezianischer Künstler im ehemaligen Atelier von Tintoretto von Hand bedruckt.
Zeit, Kreativität und Achtsamkeit als luxuriöse Accessoires, einerseits. Andererseits ein Leuchtturmprojekt, das hoffentlich Schule macht und weitere bewusst arbeitende Köche anzieht.
„Venedig hat ein riesiges gastronomisches Potenzial“, glaubt der 38-jährige Koch. „Ich will mit kulinarischen Mitteln davon erzählen, was die Stadt so großartig gemacht hat: Die Einflüsse aus Nahost, von der Seidenstraße, Marco Polo, der Gewürzhandel, den Venedig im Mittelalter mit der ganzen Welt trieb – wir haben das alles vergessen.“ In seinem achtgängigen Tasting-Menü mit skandinavischem Fundament und Zutaten aus der Region serviert er Miso-Brühe mit gerösteter Polenta und Bienenpollen von den umliegenden Inseln, auf denen Honig produziert wird. Das Gericht enthält auch Bitterorange, die von den Arabern nach Sizilien gebracht wurde, von dort nach Venedig fand und bei den Gelagen der Dogen mit Austern kombiniert wurde, wie Canella erzählt.
Viele historische Rezepte hat er in Venedigs Bibliotheken ausgegraben, für die Küche eines Luxushotels in der Lagune ein Novum. Er nutze ihre Entstehungsgeschichte als Inspiration für viele Gerichte, ohne den Gästen das zu sehr unter die Nase reiben zu wollen, sagt er. Dass die bunt gefleckten, mit Dorschblase gefüllten Ravioli eine Reminiszenz an die gläsernen Kunstwerke von der nahen Insel Murano sind, erkennt man höchstens auf den zweiten Blick. Ein minimalistisches Gericht mit Krabbe, Eigelb und schwarzem Trüffel aromatisiert er mit geräucherter Butter und Carbonara-Garum. „Meine Küche ist leicht, aber mit Tiefgang“, sagt Canella, und weist darauf hin, dass Fermentation keine Erfindung von New Nordic sei, sondern mit Zutaten wie Colatura, Wein, Käse, Oliven oder Salami schon immer eine Basis der italienischen Küche. Und dass auch die weichschaligen Moeche traditionell in Eierteig frittiert werden. „Die Tradition zu kennen, ist wichtig, wenn man etwas von der Kultur eines Ortes erfahren will“, sagt er. „Massentourismus wird es in Venedig immer geben, aber es kommen auch viele Menschen, die nach tieferen Erlebnissen suchen – und immer mehr junge Köche, weil sie hier die Möglichkeit haben, Dinge anders zu machen.“
Deshalb ist auch Salvatore Sodano seit anderthalb Jahren als Küchenchef im Local im Stadtteil Castello auf der Hauptinsel. Das kleine Sternelokal setzt schon seit 2015 auf eine zeitgenössische Interpretation der venezianischen Küchentradition. Zudem auf naturbelassene Weine, klare Linien und regionales Handwerk. Der 37-jährige Sodano, ursprünglich aus Neapel, hat viel internationale Erfahrung. Auch er serviert Blaukrabbe, kombiniert ein Sashimi mit gekochten Achillessehnen vom Kalb und fermentierter Gurke und kauft nur bei lokalen Fischern. Das Risotto di Gò, das die Fischer aus Burano seit dem 16. Jahrhundert mit einer Brühe aus Grundeln zubereiten, wandelt er ab: mit Risone, reisförmiger Pasta, gekocht im Fond aus invasiven Fangschneckenkrebsen. Das Gewürz obendrauf ist eine No-Waste-Zutat: der Überschuss eines Fischers an Schie, grauen Mini-Garnelen aus der Lagune, die Sodano getrocknet und mit Chili, Zwiebeln und Knoblauch zu einer XO-Sauce mit orientalischem Aroma verarbeitet hat – ein Multikulti-Produkt wie Venedig.
„Die Stadt mit ihrer Geschichte ist ein Vorbild für modernes Fine Dining“, glaubt er. „Als Koch kann man eigentlich nichts mehr erfinden. Aber man kann die Welt bereisen, sich anschauen, was die anderen machen, und zu Hause mit den eigenen Lebensmitteln etwas Neues erschaffen.“